Leseprobe
Das
große Tor öffnete sich, und ich stand einfach nur da, mit einem
alten Koffer in den Händen. Umgeben von hohen Mauern und
Stacheldraht, dachte ich: Dies ist ein Gefängnis für Kinder, hier
komme ich so schnell nicht wieder raus. Ich
trat zögerlich einen Schritt nach vorn. Jemand kam mir entgegen,
schickte mich auf den Flur. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte.
Meine fragile Blase verlangte dringend nach einer Toilette, aber hier
war keine. Endlich kam eine Erzieherin. Sie trug eine Uniform. Ich
wollte sie fragen, wo sich die Toilette befand, bekam aber keine
Antwort. Stattdessen schrie mich die streng dreinblickende Dame an
und meinte, ich solle mich an eine Wand stellen. Eingeschüchtert,
wie ich war, tat ich, was sie verlangte. Dabei kniff ich die Beine
zusammen und stammelte einen undeutlichen Satz vor mich hin. „Aber
ich wollte doch nur … ich meine, ich muss dringend auf die
Toilette.“ Statt
zu antworten, schlug die Erzieherin zu. Mit einem Bambusstock auf
meinen Rücken. Ich klappte zusammen. Die Erzieherin hob abermals den
Stock und schlug mich erneut. Und ein drittes Mal. Ich zitterte am
ganzen Leib. Dabei spürte ich, dass ich nicht mehr einhalten konnte.
Meine Notdurft lief in die Hose und auf den gebohnerten Fußboden.
Dafür hagelte es weitere Schläge. Und damit war noch lange nicht
Schluss. Die Erzieherin zog eine Schere aus der linken Uniformtasche,
drückte mich brutal nach unten und schnitt mir die Haare ab. In
Sekundenschnelle lagen meine schönen blonden Locken auf dem Boden –
in meinem eigenen Urin. Und der Albtraum ging weiter. Ein männlicher
Erzieher brachte mich in den Waschraum. So lief das hier. Die
männlichen Erzieher kümmerten sich um die Mädchen und die
weiblichen um die Jungs. Das war eine Frage der Würde. Sie sollte
uns Neuankömmlingen genommen werden.
Der
Waschraum war feucht und kalt. Ich fror und musste mich auch noch vor
dem fremden Mann entkleiden. Ich wäre am liebsten vor Scham im Boden
versunken. Der Mann schmierte mich mit einem groben Scheuermittel ein
und steckte mich unter die kalte Dusche. Anschließend rieb und
tastete er meinen kleinen, jungen Körper ab, ehe er mich in eine
Zelle steckte. Ich fühlte mich hundeelend und trotz der Behandlung
mit dem Scheuermittel schmutzig. Mein Körper brannte und schmerzte,
und ich war allein. Alleingelassen von meiner Mutter, von meiner
Schwester, von der ganzen Welt. Dazu befand ich mich in einer Hölle,
die sich Spezialheim nannte. Was hatte ich nur verbrochen, dass man
mich derart bestrafte?
Nach
einer Ewigkeit öffnete sich die Tür.
Vielleicht
brachte man mir endlich etwas zu essen?
Weit
gefehlt.
Vor
mir stand derselbe Mann, der mich vorhin gesäubert und abgetastet
hatte. „Meldung machen!“, verlangte er von mir.
Ich
verstand nicht sofort, was er wollte. „Wie, Meldung machen?“,
fragte ich vorsichtig.
„Ich
denke, du solltest bereits wissen, was das ist“, antwortete der
Mann barsch.
„Ich
weiß nur, dass ich wissen wollte, wo sich die Toilette befindet und
dafür Schläge bekommen habe“, erwiderte ich kleinlaut.
Die
Antwort darauf kam prompt und beinhart.
„Hier
wird nicht gefragt! Du hast zu warten, bis du Anweisungen von den
Erziehern bekommst! Du gehörst zum ‚Strandgut der Gesellschaft‘.
Du bist hier, um zu lernen, Anweisungen zu befolgen, dich ein- und
unterzuordnen!“
Ich
sank auf die harte Matratze und fing an zu weinen.
Wo
war ich? Was passierte mit mir?
Bald
darauf wusste ich es. Ich war in einer Disziplinierungseinrichtung
gelandet, in der man mich fertigmachen und meinen Widerstand brechen
wollte. Sowohl psychisch als auch körperlich. Und das alles zum
Zweck der Umerziehung zu einer ‚sozialistischen Persönlichkeit‘.
Ich
betrat den Gang, fragte mich, ob es nicht besser wäre, umzukehren.
Der Gang war dunkel und roch nach Feuchtigkeit. Linker Hand befand
sich der sogenannte Empfang. Hier hatte ich damals Meldung machen
müssen, nachdem mich der Erzieher unsanft von der Matratze gestoßen
hatte. Hier waren meine Daten aufgenommen worden.
Die
Tür war morsch und stand halb offen. Ich stieß mit meiner
Stiefelette dagegen. Sie öffnete sich sofort. Im Inneren des Raumes
lag ein umgekippter Stuhl. Sein Metallrahmen war verrostet. Das
Holzregal, in dem damals die Akten standen, lag zertrümmert und in
allen Einzelteilen verteilt auf dem Boden. Daneben befanden sich
mehrere vergilbte Blätter. Ich bückte mich und hob eins davon auf.
Es war eine Seite aus einer alten Personalakte. Auf der Vorderseite
stand der Name Magdalena Zorn mit Schreibmaschine geschrieben. Ich
kannte keine Magdalena Zorn. Vielleicht war das auch nur ein
Deckname. Ein Pseudonym für all die vielen Leidensgenossen, die man
hier eingesperrt hatte.
Was
wohl mit meiner Akte geschehen sein mag?
Ich
wusste es nicht.
Natürlich
lief ich davon. Einmal, als der Wäschewagen kam, gelang es mir,
durch das geöffnete Tor zu verschwinden. Erst danach wurde mir
bewusst, dass ich keinen einzigen Ort, keine einzige Person kannte,
zu der ich gehen konnte. So versteckte ich mich eine Zeit lang in
einer alten Scheune. Aber Hunger und Durst ließen nicht lang auf
sich warten. Ich verließ mein Versteck und versuchte, auf den
Hinterhof einer Bäckerei zu gelangen. Dabei schnappten sie mich und
brachten mich in ein noch stärker gesichertes Heim. Hier gab es
keine Schule, sondern nur Akkordarbeit nach Norm, und nach der Arbeit
militärischen Drill auf dem Hof bis zum Zusammenbrechen. Noch
schlimmer waren die Demütigungen durch Erzieher und höherrangige
jugendliche Insassen. Ich hielt es nicht mehr aus, versuchte erneut,
zu fliehen, doch der Versuch misslang. Jemand hatte meine Fluchtpläne
verraten. Dafür bekam ich die schlimmste Strafe, die es gab:
tagelange Einzelhaft in dem sogenannten Fuchsbau, einer winzigen,
fensterlosen Zelle ohne Behälter für die Notdurft.